Ausstieg ist möglich, wenn sich (fast) alle Persönlichkeiten des inneren Systems dazu entscheiden und diesen Weg gehen. Dafür müssen innere dissoziative Barrieren überwunden werden, um das im System verteilte Wissen über Täter*innen, Strukturen und Gefahren zusammen zu tragen für den eigenen Schutz und um möglicherweise vorhandene Konditionierungen und Programme zu stoppen oder aufzulösen. Es bedeutet ein Sich-Kennenlernen der Persönlichkeiten aus beiden Welten. Für Alltagspersönlichkeiten ist es sehr schwer, das Wissen um die Gewalt und die dazugehörenden Gefühle mit zu tragen. Oft gehört dazu das Wissen, in der Gewaltwelt auch Gewalt gegen andere ausgeübt zu haben oder eigene Kinder zurücklassen zu müssen. Persönlichkeiten, die mit der Ideologie der Gruppe verbunden sind, müssen das gelernte Werte- und Normensystem hinterfragen und damit oftmals ihre ganze bisherige Existenz. Sie brauchen neue Perspektiven für sich selbst und in der „anderen Welt“.

Dissoziation ist ein Schutzmechanismus. Er schützt auch im Hier und Heute vor Unaushaltbarem. Deshalb sollte die Annäherung so vorsichtig wie möglich erfolgen.

Tätergruppen versuchen den Ausstieg zu verhindern. Sie machen dabei eine Kosten-/Nutzen-Rechnung. Je wichtiger ein*e Aussteiger*in ist (z.B. als Geldeinnahmequelle im Rahmen von Zwangsprostitution oder aufgrund einer hohen Stellung in der Gruppe und entsprechendem Täterwissen) umso intensiver sind der Druck und die Einschüchterung. Bei ernsthaften Ausstiegsversuchen werden durch die Täter*innen oder täterloyale innere Persönlichkeiten oft auch konditionierte Verhaltensweisen ausgelöst, die den Ausstieg erschweren bzw. unmöglich machen sollen und die Betroffenen schwächen. Um dies zu stoppen oder aufzulösen ist Unterstützung von außen, z.B.in einer Traumatherapie, hilfreich. 

Ausstieg braucht viel Kraft, Mut und Durchhaltevermögen des inneren Systems und des Helfer*innennetzwerkes. Es kann Zeiten geben, in denen Aussteiger*innen alle Kraft für das Überleben brauchen, und z. B. ein Berufsleben nicht möglich ist. Es kann immer wieder existenzielle Krisen geben, ausgelöst durch konditionierte schädliche Verhaltensweisen/Programme, Überforderung oder weil es unmöglich erscheint, mit diesen Erfahrungen weiter leben zu können.

Es kann hilfreich sein, konkretes Wissen über Straftaten und Täter*innen als eigene „Lebensversicherung“ an zuverlässigen Stellen zu hinterlegen oder rechtliche Möglichkeiten bis hin zur Strafanzeige zu prüfen.

Wann ist der Ausstieg gelungen?

Manchmal ist Ausstieg ein lebenslanger Prozess der inneren und äußeren Loslösung und Neuorientierung. Manche Aussteiger*innen müssen sich ihr Leben lang schützen, evtl. auch nach einer Namensänderung untertauchen und sich anderswo ein neues Leben aufbauen. Manchmal reicht ein sicher hinterlegter Schutzbrief mit Täterwissen, um in Ruhe gelassen zu werden, da die Täter*innen das Bekanntwerden dieses Wissens vermeiden wollen.

Neben dieser „äußeren Sicherheit“ ist jedoch die „innere Sicherheit“ genauso wichtig, d.h., dass sich alle Persönlichkeiten des inneren Systems für den Ausstieg entschieden haben oder ihn zumindest tolerieren und die Konditionierungen und Programme soweit gelöscht sind oder innen selbst gestoppt werden können, dass Täter*innen von außen keinen Zugriff mehr haben. Dies ermöglicht eigene, freie Entscheidungen und ein selbstbestimmte(re)s Leben. 

Es ist ein langer Weg, aber er lohnt sich! 

Weitere Informationen: 

VIELFALT e.V. (2021): Organisierte und Rituelle Gewalt. Unterstützung für Betroffene. Eine Einführung für psychosoziale Fachkräfte. Broschüre, erhältlich über VIELFALT e.V.

Breitenbach, G. (2011): Innenansichten dissoziierter Welten extremer Gewalt. Kröning: Asanger.

Breitenbach, G. (2012): Wie lässt sich das Wissen um die systematische Bewusstseins-Spaltung in Ritueller Gewalt und Mind-Control planvoll therapeutisch nutzen? Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft, Psychologische Medizin, Jg. 10, Heft 4, S. 53-67.

Fliß, C., Igney, C. (2010): Handbuch Rituelle Gewalt, Lengerich: Pabst Science Publishers. 

Fliß, Claudia & Prins, Riki (2015) (Hrsg.): Buch der Hoffnung. Wege aus der Macht organisierter Täterwelten in ein selbstbestimmtes Leben. Asanger: Kröning. (AussteigerInnen berichten über ihre Erfahrungen), Flyer 

Frei, P. C. & Weber, S. (2021). SUPPORT: Ein Leitfaden für den Ausstieg aus organisierten sexualisierten und rituellen Gewaltstrukturen. https://nina-info.de/images/Support-Ein_Leitfaden-komprimiert.pdf

Igney, C. (2015): Ausstieg und dann? Über das Leben "danach". In: Netzwerk ALTERNATIEF (2015): Organisierte Rituelle Gewalt und Mind Control - Standortbestimmung 2015. Tagungsdokumentation. S. 59-77. Restexemplare erhältlich über VIELFALT e.V.

Miller, A. (2014): Jenseits des Vorstellbaren. Therapie bei Ritueller Gewalt und Mind Control. Kröning:Asanger (mit Berichten von AussteigerInnen)

Miller, Alison (2016): Werde, wer Du wirklich bist. Mind Control und Rituelle Gewalt überwinden. Kröning: Asanger.
Mit Informationen über Folgen von Ritueller Gewalt und Mind Control und konkreten Anregungen für den inneren und äußeren Ausstieg. Das Buch richtet sich an Betroffene, ist aber ebenso für UnterstützerInnen hilfreich. 

Nick, S., Grundmann-Tuac, J., Schäfer, I., Gysi, J. (2022). Organisierte sexualisierte Gewalt – Herausforderungen und Chancen in der Diagnostik und Psychotherapie für Betroffene. Verhaltenstherapie, Aug. 2022, DOI:10.1159/000525793

Oksana, C. (1996): Safe Passage to Healing (In Sicherheit heilen - ein Leitfaden für Überlebende von rituellem Missbrauch), Übersetzung ausgewählter Kapitel.

Paternoga, K. (2018). Der äußere und innere Ausstieg der kleinen Sophie. In: Huber, M. (Hrsg.). Der innere Ausstieg. Transgenerationale Gewalt überwinden, S. 150-180. Norderstedt: BoD.

Stichting Alternatief Beraad (2004): Konzeptprotokoll für das Deprogrammieren bei “rituellem sadistischem Missbrauch”. Download PDF

VIELFALT e.V. (Hrsg.) (2006): Organisierte sexualisierte und rituelle Gewalt-Erfahrungen mit Ausstiegsbegleitung aus der Sicht professioneller BeraterInnen/TherapeutInnen. Ergebnisse einer Befragung im Herbst 2005, erhältlich über VIELFALT e.V., Postfach 10 06 02, 28006 Bremen, www.vielfalt-info.de. 

Wissensportal zu organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt https://www.wissen-schafft-hilfe.org/